tres camenzind, fotograf

Waldläufer

Der Waldläufer im Totholz 

Die Schweiz braucht mehr Wildnis. Die Fotografien von Tres Camenzind über den Wald zeigen, warum. Ein Besuch im BSINTI, der Kulturbar von Braunwald. 

von Köbi Gantenbein im Hochparterre 10/2020

Tres Camenzinds Fotografien zeigen nicht die populä­re Schönheit des Waldes, wie sie der Maler Caspar Da­vid Friedrich vor 200 Jahren begründet hat, wie wir sie kennen aus den Märchenbüchern und wie sie Tausende Instagram-Postkarten herstellen. Verzittert, überblendet, verfremdet hängen Waldmomente an den Wänden der Kulturbar Bsinti in Braunwald. Im kleinen Kaffee- und Kunsthaus hat Camenzind die Stimmung des Waldläufers abgebildet, die knisternde Entfremdung, die jeder erlebt, wenn er aus seiner gewohnten Stadtlandschaft in den Wald tritt, wo die Wege aufhören und die Orientierung ver­loren geht, ausser man kann Sonne, Wolken und Tierspu­ren lesen. Der Fotograf weckt Bilder in unseren Köpfen. Dafür steht er mit seinem Apparat auf einem Punkt vor dem Wald oder im Unterholz. Er schüttelt und rüttelt die Bäume und Büsche mit den optischen Techniken und spä­ter mit den Werkzeugen des Computers. Er geht von seiner eigenen sinnlichen Erfahrung aus und verlässt sich auf Ahnungen, Mythen und Ängste - der erschütternde Wald. 

Wald und Wildnis 

Doch Tres Camenzinds Waldbilder berichten auch vom Albtraum, aus dem wir erwachen, schweissgebadet. Mausbeinallein waren wir im Wald verloren, verfolgt vom Glasmännchen und geröstet vom Toggelschrat. Wir haben eben erlitten, wie die gewohnte Ordnung ins Chaos gekippt ist und wir ins Unergründliche gestürzt sind. Der Wald ist immer auch die Wildnis. Die Wortforscher verbin­den beide Räume. Der Wald, sagen sie gar, sei ursprüng­lich die Wildnis, der gesetz- und kulturlose Ort, aus ihm und seiner Finsternis, seinen Raubtieren und Albträumen hätten die Menschen sich mühsam befreit, um ihn dann, als Beginn der Kultur, zu roden und zu ordnen. Und ihn vermessen, erforscht, weg bar gemacht und so gerüstet für die Ausbeutung und die Zerstörung. 
Die Waldvernichtung ist einer der grossen Feldzüge der Menschen gegen die Natur. In der Antike Hessen die Seefahrer-Fürsten die Wälder vernichten. Der Brandro­der ist eine Heldenfigur der Schweizer Geschichte. Bis zur , einer neueren Erfindung der Urbanisten, schlossen Wald, Wildnis und Siedlung einander aus. Kon­trolliert als Garten war er willkommen, nicht aber gedul­det in seinem Eigensinn. Noch im 19. Jahrhundert rodeten die Schweizer weite Teile ihres Gebirgswaldes für den Holzhunger der aufkommenden Industrie und der wach­senden Städte. Heute verschwindet stündlich Hektar um Hektar in Lateinamerika, damit die Sojafelder für unseren Fleischhunger wachsen können, oder in Südostasien, wo die Plantagen mit den Ölpalmen für unsere Schokoladen, Tomatensuppen, Duschgels und Eyeliner gedeihen. In der Schweiz hat sich der Wald seit dem Waldge­setz, das Oberforstinspektor Johann Wilhelm Fortunat Coaz vor 150 Jahren entworfen hat, erholt. Vor gut hundert Jahren haben er und seine wohlhabenden Bürgerfreunde aus dem Unterland im Engadin sogar den ersten National­park der Alpen eingerichtet, wo Wald und Wildnis seither mehr oder weniger machen können, was sie wollen. Eine koloniale Tat, den Gebirglern verordnet. Der schöne wilde Wald, wie Tres Camenzinds Bilder ihn zeigen, ist mittler­weile populär - ausser er kommt den Menschen zu nahe. 

Wildnis im Kopf 

Camenzinds Wälder erschüttern den gewohnten Blick auf die zwei hohen Schweizer Werte Sauberkeit und Ord­nung. Äste, Farben und Lichter verschwimmen ineinan­der. Boden, Baum und Himmel verlieren das Oben und Unten. Die Konturen sind fort, wir müssen vermuten, was wozu gehört. Die Fotografien bilden auch ab, dass es mit unserer Liebe zum Wald als Wildnis nicht so weit her ist. Immerhin: 17 Prozent der Schweiz sind wildnisnahe Land­schaft, ein beträchtlicher Teil davon Felsen, Schutt und Eis, weit weg und hoch oben. Je näher aber die Siedlungen rücken, umso wichtiger wird der Kampf um Reinlichkeit und Sicherheit. Zudem gilt: Wildnis ja, aber nicht da, wo ein Kraftwerk oder ein Skilift gebaut werden könnte. Auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Ge­meinde Glarus Süd, zu der Braunwald gehört, wehren sich wie fast alle Menschen am Waldrand dagegen, dass ihr Territorium als Vorraum zur Wildnis kolonisiert wird. 
Je weiter aber der Waldrand weg ist, umso grösser ist die Freude am vermeintlichen Paradies. Und das nutzten die Ideologen des ETH-Studios Basel und von Avenir Suisse vor einem Dutzend Jahren, um Bergsubventionen zu spa­ren und die «Alpinen Brachen» sich selbst zu überlassen. Es war ein Schuss in den Ofen, denn der Kampf gegen die Wildnis ist tief verankert, auch wenn immer mehr Men­schen ihren Rand verlassen. Aber Obacht - die Wildnis wird dennoch vor stadtnahen Räumen nicht Halt machen, prophezeit Tres Camenzind frohgemut. Seine Bildergale­rie hat er im Urwald der Bödmeren fotografiert oder im Brunniswald hoch oben im Kanton Nidwalden, aber auch nahe der Stadt im Niderholz bei Ellikon, auf der Höhronen über dem Zürichsee oder im Klettgau. - Und wird der Wald wild in Altenstein, am Irchel oder in Bernhardzell, würde sich dann die Haltung ändern, und die Wildnisskeptiker aus dem Gebirge wären nicht mehr allein? 

Wildnis am Boden 

Die Fotografien beleuchten drei Erkenntnisse. Erstens findet Wildnis im Kopf statt. Da ordnen und archivieren wir unsere Bilder, vorgeformt von Fotografien. Ob liebli­che Blumenwiese oder stachliges Dickicht, beides hängt von unseren Erfahrungen im Büro und den Träumen vom schönen Landleben ab. Wir bringen nicht nur für die Kul­turlandschaft, sondern auch für die Wildnis unsere Erin­nerungen und Werte in Stellung. Wir verteidigen unsere Interessen und schützen unsere Bretter vor dem Kopf, die anders gemasert sind im Gebirge als in der Stadt, wo der Schnee, der Wolf und die Lawine vorab grossartige ästhe­tische Ereignisse sind. Zweitens geschieht Waldwildnis völlig unabhängig von uns, draussen bei den Bäumen, wo nur die Kamera ist. Die kreuz und quer hängenden Zwei­ge, die schillernd tanzenden Farben auf Camenzinds Bil­dern brauchen uns allenfalls als Betrachter, sonst aber überhaupt nicht. Drittens ist die Neugierde für Wildnis keineswegs neu. Je mehr sie zerstört wird, umso poeti­scher wird Wildnis besungen und umso stärker wird sie be­sucht. Bemerkenswert ist, wie die Natur- und Landschafts­schutz-Organisationen mit naturforschendem Können und naturschützendem Furor Wildnis in den letzten Jah­ren zu einem politischen Projekt gemacht haben. Aller­dings mit Niederlagen für neue Nationalpärke, trotz der Gewissheit, dass der Klimawandel und die Abwanderung aus den Bergregionen solche Projekte fördern wird. In flottem Trotz leuchtete neulich ein Heft von Pro Natura aus dem Briefkasten: «Und jetzt erst recht: die Wildnis!»

Ein neuer Studiengang 

Aus solchen Erkenntnissen wächst die «Wildnis-Stra­tegie Schweiz». Mountain Wilderness Schweiz hat sie jüngst vorgelegt und die Wege dahin entworfen. Kämpfte die kleine Umweltorganisation bisher spektakulär gegen die Helikopterflüge für Tiefschneefahrer, die zu faul sind, auf den Berg zu steigen, oder gegen die Vermöbelung der Alpen mit Hängebrücken und anderem Unsinn, so unter­legt sie ihre Aktionen nun mit einem klugen, ausgereiften Plan für die Wildnis bis 2030. Es geht um Wissen über die wilden Landschaften und die gewissenhafte Voraussicht, dass mehr Wildnis nur herzustellen ist, wenn die, die in ih­rer Nähe noch leben, das auch wollen. Das macht die Ide­en bodenständig und vernünftig. Bemerkenswert ist der Plan, die kleinen Wildnisse in und vor den Städten mit der grossen Wildnis im Gebirge zu verbinden. Mountain Wil­derness fordert damit auch die routinierten Landschafts­architekten heraus. Sie haben in den letzten Jahren im­mer gegen die Wildnis kämpfen müssen, denn nirgends wird Ordnung und Reinlichkeit so hartnäckig umgesetzt wie in den zeitgenössischen Parkanlagen und Gärten. Und so scheint aus den Waldbildern von Tres Camenzind, die über die Kante von Wald und Wildnis balancieren, das Curriculum für einen neuen Landschaftsarchitektur-Stu­diengang auf: Der dipl. Wildnisser und die Dr. Wildnisse­rin - Erforscherinnen und Verknüpfer der Gebirgs- mit der Flachlandwildnis vor und in den Städten, wo gelten soll: Kampf dem Rasen, langes Leben dem Unkraut, den ver­dorrten Zweigen und dem Totholz. 

Wildnis lesen 

Mountain Wilderness Schweiz und die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft haben zusammen die Studie ,Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz, erarbeitet. Im ersten Teil sind die Autorinnen unterwegs im Maderanertal und gruppieren die Einstellungen der Einheimischen zur Wild­nis. Zu dem, was wir vermuten - sie mögen die Wildnis nicht-, kommen fein­sinnige Erklärungen über Ängste, Er­fahrungen und Interessen. Zudem betra­gen sie Beamte in den Bergkantonen. Die mögen zwar mehr Wildnis, lieber aber im anderen als im eigenen Territorium. Im zweiten Teil erforschen die Wissen­schaftler das Wildnis-Potenzial. Ein Fünftel des Landes hat das Zeug für Wild­nis hoch oben bei Fels und Eis, aber auch vor der Haustür der Städte. Immer wieder ziehen die Autoren Schlüsse für die politische Arbeit. Die Studie ist denn auch eine Grundlage für die «Wildnis­Strategie Schweiz». Sebastian Moos, Sarah Radtord, Aline von Atzigen, Nicole Bauer, loset Senn, Felix Kienast, Maren Kern, Katharina Con­radin. «Das Potenzial von Wildnis in der Schweiz». Haupt Verlag, Bern 2019. Unter­stützt von der Bristol-Stiftung. 39 Franken bei hochparterre-buecher.ch

Bsinti Braunwald 

In der Kulturbar ,Bsinti> in Braunwald kann man essen, trinken, zusammensitzen, Bücher anschauen und kaufen. Im Lese­cafe gibt es Konzerte, Lesungen und Ausstellungen über die Fotografie im alpi­nen Raum. Tres Camenzinds Bilder «und grün wie der Himmel» sind noch bis zum 18. Oktober zu sehen. www.bsinti.ch


pdf der originalen Seiten aus dem Hochparterre 10/2020



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