tres camenzind, fotograf

und grün wie der Himmel - blinzelnd durch den Wald

Wie Telefonmasten sind wir, wenn wir den Wald betreten. Jene Telefonmasten, die in den Wald zurück- gestellt wurden dank einer Idee, nachdem sie lange und in grossen Abständen zueinander in Reihen standen, dort wieder austrieben, sich reckten, Wurzeln schlugen, Raum griffen, ausfächernd bis in die Zweige eines nächsten Baumes. Der Wald lädt uns nicht ein. Wir betreten ihn wie ein fremdes Land, streifen die Stadt stillschweigend ab. Erfahren im Unterholz und Geäst, dass hier nicht Grösse gefragt ist, sondern unsere Sinne, nackt wie Tentakeln. 

Wir betreten die Wälder und betrachten die Fotografien von Tres Camenzind blinzelnd, schauen sie mehr aus der Unbegreifbarkeit unseres Unterbewusstseins. Unsere verunsicherte Haltung findet in diesen Bildern einen überraschenden Spiegel. Und Zeit schenken sie uns, etwas zu betrachten, dem sich unser Bewusstsein oft entzieht. Das schillernde Licht, vom grünen Himmelsdach in den kühlenden Schatten des Waldes geworfen, blendet uns. Es wird dem Wald zum Schmuck, zum Fest, gibt sich wie Lametta allem hin, funkelnd, glitzernd und versöhnlich. Es streift warm die Stämme, versetzt Zweige mit dem Spiel der Lüfte in kaleidoskopische Unruhe. Die unendliche Vielfalt der Flächen eines Waldes wird dem Licht, dem Tau, dem Regen, dem Frost, dem Schnee, den fliegenden Sämlingen zum Gefäss, zur Bütte, zur Schale, zum Kelch. Und auch die vertikalen Stämme werden durch eine flimmernde Umgebung aus ihrer Strenge befreit, scheinen vom Boden gelöst, täuschen wurzellosen Flug vor, von Licht getragen. Doch bei Einbruch der Nacht wandelt sich die dicht stehende Reihe der hohen Tannen in eine sich unmerklich schliessende Zahnreihe, droht uns zu verschlucken wie der Wal seinen Jonas. 

So retten wir uns auf Waldlichtungen, die wie Fruchtkörbe liegen, ein Versprechen auf Erdbeeren, Himbeeren, Holunder, Tollkirschen und Pilze. Oder wir kauern uns an den Rand der Lichtung wie ein Jäger auf seinem Hochsitz, harren der Erscheinung eines solitären Königs, zwölfendig wie das Jahr. Insekten vermessen währenddessen im Reigen ihres Auf und Ab den luziden Platz. Tatsächlich, die Geräusche bedrängen uns hier weniger, der Himmel über uns zeigt sich wieder blau wie im Lehrbuch, hinter uns schwebt das grüne Kathedralengewölbe. 

Denn die Geräusche des Waldes wie auch jene in den Fotografien von Tres Camenzind lassen uns innehalten, rauben uns für einen Augenblick den Atem. Wo ein Ast sich am anderen reibt, ein Stamm sich in seinen Nachbarn verkeilt, ein Wind, ein Sturm die Pflanzen aufeinander zutreibt, werden Töne frei, die Schraffuren gleichen, Töne uns nicht vertrauter Instrumente, Laute uns nicht bekannter Tiere. Aber auch, als ob sich an der Flanke, dem Hals eines Hirsches, eines Rehs, einer Wildsau eine Schraffur zeigte, kaum hat sich das Tier an einem Stamm gerieben. 

Der Wald ist ein Revier, welches der Zeit vordergründig mehr zu trotzen scheint als unser offenes Land. Es lässt sich weniger schnell einnehmen als ein Berghang, der mit Skilift und Gondel gespickt wird und sich Skijacken darauf verstreuen wie Konfettis an Karneval. Im Wald herrscht trotz Grillplatz und buntem Richtungshinweis der Atem einer anderen Welt. Aus keinem seiner Bewohner haben wir Menschen Haustiere zu schaffen vermocht, nicht einmal das Eichhörnchen, das putzige, liess sich domestizieren. Die Märchen haben dem Wald Wesen zugestanden, die nur da und in unserer Fantasie Lebensraum fanden, der Faun, der Troll, der Pan, das Einhorn, gewisse Elfen. Und die Geister der ausgestorbenen Tiere unserer Wälder rauben uns des Nachts die Ruhe, kein Liebespaar setzt sich dem streunenden Geist eines Bären oder Wolfes aus. 

Im Wald werden wir uns selbst fremd und feig, in seinem Dunkel fürchten wir unsere eigene Stimme, die wir dann doch gegen unsere Furcht einsetzen, um ja nicht zu hören, wie die Angst sich uns nähert. 

Die Fotografien von Tres Camenzind lösen an der Grenze zwischen meinem Bewusstsein und meinem Unterbewusstsein eine abenteuerliche Reise aus, ein steter Spagat verbindet diese zwei Seiten des Menschseins, berührt auch unausweichlich Räume unserer Kindheit. Ich glaube, im Wald sind wir das, was wir immer schon waren! Diesen Wäldern hat Tres Camenzind ein Gesicht gegeben. 

Giorgio von Arb Zürich, 10. April 2014



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